Wie lerne ich Text
castmag Ausgabe IV / 2020
Der Text ist Freund und Feind zugleich. Er gibt Power und verursacht trotzdemVersagensängste. Selbst die grössten Schauspielerinnen bewegen sich in diesem ambivalenten Verhältnis zum Text. Und das ist gut so, denn diese Dualität hält uns lebendig. Aber der Reihe nach. Warum müssen wir überhaupt Text lernen? Weil es Profis wieShakespeare, Schiller&Goethe und andere verdammt gute Autoreninnen gibt, die Texte schreiben, die wir mit eigenen Worten wohl kaum besser ausdrücken könnten. Und der Text ist das Gerüst und eine Abmachung mit allen Beteiligten – den Kollegeninnen, Regisseurinnen und dem Team. Oft und gerade in Film- und Fernsehproduktionen sind Texte leider oft nicht von Vollblut-Profis geschrieben. Manche dilletantischen Drehbuchautoreninnen schreiben einen Roman statt ein Drehbuch – was eine Beleidigung gegenüber der künstlerischen Freiheit von Regisseureninnen und Schauspieler*innen ist. Gute Texte sind nie „eng“ geschrieben, sondern werden immer offen gehalten für verschiedenste Interpretationen. Wenn der Text akzetabel ist, dann geht es jetzt ans Textlernen, oder? Nein. Als Allererstes kommt die Geschichten- und Rollenanalyse sowie die Klärung der Beziehungen zu allen anderen Rollen. Gehört Deine Rolle zum Team Protagonist oder zum Team Antagonist? Es werden die basic Parameter Deiner Rolle geklärt – wie overall-objective, need, actions, obsticals, Personalisierungen und substitutions, emotional memories, der Avatar, die Icon usw. – ganz gemäß Deiner Technik. Wenn Dir klar ist, um was es Dir und Deiner Rolle in der Geschichte geht, dann will und muss der Text wie ein Acker gepflügt und strukturiert werden. Mit unserer inneren Arbeit sähen wir dann die Samen aus, die im Spiel erblühen können. Aber erstmal teilen wir das Drehbuch in die 5 Akte – oder wie Susan Batson sie nennt – in die „5 C´s“:
- Circumstances / Umstände
- Conflict / Grundkonflikt der Geschichte
- Crisis / Krise, Verdichtung des Konflikts und eine Entscheidung des Protagonisten,
die nicht rückgängig zu machen ist - Climax / Höhepunkt und entscheidende Auseinandersetzung zwischen Protagonist
und Antagonist - Conclusion / wie sieht die Welt nach dem Höhepunkt aus?
Jetzt gehen wir in die einzelnen Szenen – oder wie Susan Batson und Ivana Chubbuck es nennen – ins „Beaten“. Das heisst, wir geben der Szene Taktstriche. Jeder neue Gedanke ist ein neuer Beat. Und weil es sehr viele Gedanken geben kann, brauchen wir erstmal eine Grundstruktur und machen dasselbe wie mit dem ganzen Buch mit jeder einzelnen Szene: Wir unterteilen in 5 C´s. Erst danach differenzieren wir diese in weitere Takte. Nun füttern wir die Beats mit unserer „inner work“, also unseren inneren Bildern und Satzes für Dich privat. Sie gehen bis ins Intimste, Ehrlichste und Brutalste in Dir und werden nicht öffentlich ausgesprochen. Sie können politisch inkorrekt, unter der Gürtellinie oder entwaffnend ehrlich sein, aber sie haben immer eine sehr tiefe Bedeutung für Dich. Das spürt der Zuschauer. Dann finden wir ein oder mehrere „doings“, also eine sichtbare Tätigkeit der Rolle, welche die inneren Bilder andeutet oder kontrastiert. JETZT ERST GEHT ES ANS TEXTLERNEN! Denn wenn die Analyse vorher nicht gemacht wurde, dann lernst Du den Text falsch oder betonst ihn falsch und wirst starr und unflexibel, weil Dir die Bedeutung der Worte und der Taten nicht bewusst sind. Es ist sehr schwierig, falsch gelernten Text wieder zu neutralisieren und neu zu lernen. Das ist doppelte Arbeit und am Set fatal. Genauso wie es unterschiedliche Menschen gibt, gibt es unterschiedliche Schauspieler*innen-Typen und eben unterschiedliche „Text-Lern-Typen“. Es gibt sieben unterschiedliche „Reaktionszentren“. Ein Reaktionszentrum ist der körperliche Ort, aus dem heraus ein Mensch zuallererst auf unerwartete oder neue Ereignisse reagiert. Wenn wir also einen neuen Text lernen müssen, dann ist das einäusseres Ereignis, auf das wir am besten mit unserem uns eigenen Reaktionszentrum reagieren, damit arbeiten und es integrieren. Die 7 Reaktionszentren sind: Das emotionale, das intellektuelle, das sexuelle, das instinktive und das motorische Zentrum. Das spirituelle und das ekstatische Reaktionszentrum sind vorrübergehende Zentren, die kein Mensch dauerhaft oder bewusst aufrechterhalten kann.
- Lernen und Proben mit dem emotionalem Zentrum: Wer ein emotionales Zentrum hat, bei dem kommt Fühlen immer vor Denken und Handeln. Erst wenn er/sie durch Fühlen eine Situation oder eine Szene für sich eingeordnet hat, kann er/sie handeln und sprechen. Solche Schauspieler*innen arbeiten von Innen nach Aussen und für sie sind die Schauspieltechnik von Susan Batson und der emotional memory sehr gut geeignet. Ich habe selber ein emotionales Reaktionsmuster und lag beim Textlernen immer bewegungslos im Bett, weil ich erst alles nachfühlen musste und dann erst auf Basis dieser Gefühle überhaupt den Text lernen konnte. Mit einem emotionalem Reaktionsmuster ist man also eher keine Textkanone, denn man braucht sehr viel stille Vorarbeit. Dafür haben wir das Talent, den Text genau zum richtigen Zeitpunkt mit genau der richtigen Tiefe zu sagen. Dieses Talent sollten wir uns nicht von den Ungeduldigen nehmen lassen! Fühle also beim Textlernen alle emotionalen Stadien Deiner Figur in der Szene nach. Dann erst kannst Du kognitiv den Text lernen. Das dauert am Anfang ewig, geht aber immer schneller, je öfter Du die Szene wie eine Ski-Abfahrt wiederholst. Beim Dreh musst Du dann sogar gar nicht mehr auf Deine Gefühle warten, denn Du hast sie ja schonlange vorher angelegt und die reichen aus. Ein emotionaler Mensch hat generell Schwierigkeiten, seine Emotionen in Worte zu fassen. Aber es ist sehr berührend, als Zuschauer zu sehen, wie schwer es der Figur fällt, eben diese auszudrücken.
- Lernen und Proben mit dem intellektuellen Zentrum: Den intellektuell Zentierten fällt Textlernen natürlich am leichtesten: Sie brauchen nur eine Kausalkette im Text, denn sie wollen den Text einfach genauso verstehen, wie sie die ganze Welt verstehen wollen. Es macht ihnen Spass zu denken, zu argumentieren und zu diskutieren. Sie spüren eine tiefe Befriedigung, ihre Gedankengänge und den Text mit dem Publikum teilen zu können. Sie lieben jedes einzelne Wort und machen es fast zur Kür, die Wörter zu veräussern und sie verstanden zu wissen. Als stillerer, intellektueller Typ hat man einen sehr regen inneren Monolog tausender Gedanken parallel zum Text. Dieser innere Gedankenfluss ist dem/der Schauspielerin anzusehen. Diesen Gedankenfluss solltest Du nie unterdrücken – folge ihm beim Lernen und beim Spielen! Wichtig ist, dass man nicht „kopfig“ oder ein „talking head“ wird. Das geht für eine Lesung, fürs Schauspiel musst Du aber Deinen Körper mit einbinden. Intellektuellen Schauspielern gebe ich deshalb gerne eine sensory zur Szene mit – also körperliche Gefühle ob der Umstände der Szene, wie Kälte, Wärme, Drogeneinfluss, körperliche Beschwerden usw. Auch durch Tierarbeit („animal work“) beziehen intellektuell zentrierte Schauspielerinnen den Körper und die äusseren Umstände mit ein und bleiben lebendig. Beim Textlernen habt Ihr so auch noch einen weiteren Faktor den ihr bedenken müsst und somit wird Euer Text nie nur zweidimensional.
- Lernen und Proben mit dem sexuellem Reaktionsmuster: Vorneweg: Ein sexuelles Reaktionsmuster heisst nicht, dass man ständig Ficki-Ficki machen muss. Es bedeutet vielmehr die Lust, etwas Neues zu kreieren. Am liebsten mit jemandem zusammen. Wer ein sexuelles Reaktionsmuster hat, ist auf der Aktionsebene beheimatet und will seine fundamentalen Lebenskräfte im geistigen, künstlerischen und vitalen Bereich äussern. Er ist stark mit seinem Körper in Kontakt und will ständig in Fluss sein. Denn nur mit seiner körperlichen Zufriedenheit kann er auf andere Menschen und Situationen zugehen, sie mit Energie aufladen, ändern,
umstimmen, verführen und bei jeder Aktion Lust empfinden – was für sexuell zentrierte Schauspieler*innen eine entscheidende Grundmotivation ist. Beim Textlernen ist der Trigger die „I want you to“ – objective von Ivana Chubbuck. Was willst Du mit Deinem Text erreichen? Wofür willst Du Dein Gegenüber gewinnen? Werde Dir bewusst, welche Macht Dir der Text gibt, eine neue Welt nach Deinen Vorstellungen zu erschaffen. Auf einmal wirst Du Lust und Spass dabei empfinden, den Text zu lernen. Und noch mehr mit sexuell konnotiertem Subtext – darüber entsteht auch sexual chemistry im Spiel. Schäme Dich nicht dafür, sondern
habe Spass daran, dass der Text zum Erreichen Deines Wohlgefühls beiträgt. - Lernen und Proben mit dem instinktivem Reaktionsmuster: Wir in unserer westlichen Zivilisation haben uns ja weit von unseren Instinkten entfernt und uns eher ein intellektuelles Reaktionmuster angeeignet. Dabei garantieren unsere Instinkte unser Überleben und unsere Kunst ist eine Möglichkeit, unsere Instinkte auszudrücken. Um diese zu aktivieren, müssen wir das Pferd von hinten aufsatteln:
Inspiration -> Intuition -> Instinkt. Übersetzt für Schauspiel und Textlernen bedeutet das:
- Inspiriert Euch für Eure Rolle, schaut auch Filme, Bilder und Videos an, lest, hört Musik dazu.
- Entwickelt eine Intuition dafür, was sich für die Rolle richtig anfühlt und wie sie den Text versteht.
- Spielt aus dem Instinkt, aus „dem Bauch heraus“! Schert Euch dabei um keinerlei Verantwortung (ausser die Unversehrtheit der Kollegen). Gebt der Rolle immer eine existenzielle, körperliche Dringlichkeit, eine
Gefahfahrensituation, aus der heraus sie handelt. Dann wird Euch das Textlernen
leicht fallen und im Spiel immer authentisch sein und spontan wirken. Ich verrate jetzt nicht, welcher sehr bekannte, deutsche Schauspieler sich dafür beim Spielen immer vorstellt, er müsste wiklich sehr, sehr dringend aufs Klo 🙂 - Lernen mit dem spirituellem Reaktionsmuster: Vorweg: „Spirituell“ meint nicht Esoterik, Religion oder Okkultismus, sondern einen vorrübergehend von seinen Beschränkungen befreiten Geist. Dieses Reaktionszentrum ist genauso wie das ekstatische Reaktionszentrum nicht dauerhaft auszuhalten und schon gar nicht bewusst zu aktivieren. Man kann nur die Vorbereitungen dafür treffen, dass sich das spirituelle oder ekstatische Zentrum öffnet. Aber fest damit rechnen kann man nicht. Wenn sich diese Zentren öffnen, dann bekommt man von ihnen eine sehr starke Führung und grosse Freude an der Arbeit. Um das spirituelle Zentrum anzutriggern, braucht der/die Schauspielerin eine grosse Offenheit und Neutralität, um für Einflüsse äusserer Energien empfänglich zu sein. Wenn er/sie dies für die Rolle nutzt und zulässt, bringen diese Energien in ihm/ihr stets eigene Bilder, Ideen und Visionen hervor. Und ich sage bewusst nicht, dass dieses Reaktionsmuster besondere Emotionen hervorruft, sondern im Gegenteil: eher Klarheit und Gewissheit über den Text und bei der Ausführung der Handlungen der Rolle. Das spirituelle Reaktionszentrum führt uns wie das dritte Auge und kann uns leichter vom konditionierten Denken lösen. Was für das Triggern des spirituellen Reaktionsmusters besonders gut helfen kann, sind die „free associations“ und „imaginary objects“ – Übungen von Stella Adler. Für die „free associations-Übung“ greift sich der/die Schauspielerin ein wesentliches Wort aus dem Text heraus und lässt sich überraschen, wohin ihn/sie die freien Assoziationen tragen, wenn er/sie diese Assoziationen beim Textlernen laut ausspricht. Paradoxerweise gräbt sich dieses Wort dadurch viel tiefer ins Bewusstsein ein. Und das macht man mit so vielen Wörtern in der Szene, wie es geht oder wie man es braucht. Die zweite Möglichkeit ist, man nimmt sich ein „imaginary object“ aus der Szene heraus, beschreibt es mit Sprache bis ins kleinste Detail und mit all seinen Facetten – zum Beispiel die Pistole in einer Gewaltszene oder die Rose in einer Liebesszene. Alle Aufmerksamkeit ist dann diesem Objekt gewidmet und der Text legt sich quasi um dieses Objekt herum und bekommt genau die Beiläufigkeit, welche ein sehr grosse Authentizität bewirkt. Marlon Brando war in fast jeder Szene mit einem „object“ beschäftigt.
- Lernen und Proben mit dem ekstatischen Reaktionsmuster Ekstase bedeutet „in Freude ausser sich sein“. Anders als beim spirituellen Reaktionsmuster, das eine grosse mentale Klarheit hat, ist das ekstatische Reaktionsmuster eine verzückende Verwirrung, die gar nicht rational erklärt werden kann. Alle Theater-Schauspilerinnen kennen diese Ekstase im Spiel auf der Bühne. Generell entsteht diese Ekstase, wenn Schauspielerin und Rolle eins werden. Weil der/die Schauspielerin seine Identität und Gefühlsverstrickungen zugunsten der Rolle vorübergehend aufgibt. Die Frage ist jetzt, wie man diese mystische Verbindung von Schauspielerin und Rolle erreicht. Das kann man natürlich oldschool method-acting-mässig machen, indem man das Leben der Rolle nachlebt. Oder fragt Daniel-Day Lewis, wie er es heute macht! Ich habe dafür meine Avatar- Technik entwickelt, bei der man eine Rolle bis ins Detail visiualisiert und dann physisch in sie hineinschlüpft. Den Text lernt man, wenn man „in“ der Rolle drin steckt. Weil er sich dann automatisch selbst regelt. Lustigerweise kann man ihn dann auch nur „in“ der Rolle.
- Lernen und Proben mit dem motorischen Zentrum Motorisch zentrierte Schauspielerinnen haben einen grossen Bewegungsdrang, sind sehr beweglich und flexibel – nicht nur körperlich, sondern auch geistig und sogar emotional. Diese Flexibilität und Extrovertiertheit ist als Schauspielerin sehr vorteilhaft, denn das Leben und das Spiel sind Bewegung. Motorisch zentrierte Schauspielerinnen lernen den Text am besten zum Beispiel beim Spazierengehen, auf dem Crosstrainer oder beim Bügeln oder Spülmaschine ausräumen. Sie müssen auf jeden Fall etwas dabei tun. Und was das Geistig- Emotionale angeht, so brauchen sie auch Abwechslung und unterschiedlichste Interpretationen und Spielweisen, um nicht gelangweilt und passiv zu sein. Kein Wunder, dass die meisten Theaterschauspielerinnen motorisch zentriert sind. Denn sie müssen alle inneren und äusseren Vorgänge in den Proben durch Bewegung verarbeiten, ableiten und ausdrücken. Für motorisch zentrierte Filmschauspielerinnen ist es indes eine grosse Herausforderung, trotz der Bewegungseinschränkung vor der Kamera lebendig zu bleiben. Deswegen sind für sie jede noch so kleine Aktivität und Bewegung (oder „doings“ wie Ivana sie nennt) so wichtig, damit solche Schauspielerinnen vor der Kamera nicht innerlich tot sind. Umgekehrt müssen sie sich vor Aktionismus und Hektik hüten. Die Abwechslung zwischen Anspannung und Entspannung sind für solche Schauspielerinnen in jeder Beziehung sehr wichtig. Beim Textlernen solltet Ihr den Text abwechselnd ganz langsam und dann im speedy-Gang durchgehen, übertrieben emotional und dann pfurztrocken. Das richtige Tempo und die richtige Gefühlslage stellen sich dann spätestens mit der Erschöpfung ein. Deswegen sagte Stanislavski zu seinen Schauspielern immer: „Seid so müde wie ihr könnt!“ – um eben genau dieses richtige Maß zwischen Über- und Unterspannung zu finden. Motorisch zentrierte Schauspielerinnen sind ganz klar auf der Aktionsebene und buchstäblich unermüdlich, deswegen eignen sich für sie die Szenenziele – also „scene objectives“ wie Ivana sie nennt. Solche Schauspieler*innen werden immer neue Mittel und Wege finden, in der Rolle ihr Ziel zu erreichen. Habt also keine Angst, das Falsche zu tun und schämt Euch nicht für Eure Lebendigkeit. Denn Ihr seid per se beweglich und bewegt andere. Zusammenfassend und unterm Strich kann ich nur sagen: Mache Dir den Text zu eigen. Es ist DEIN Text und niemand kann und muss ihn besser verstehen, spüren oder ausbewegen als Du. Es ist harte Arbeit, aber die wird am Ende immer mit sehr viel Spaß und Freude belohnt. Versprochen.

